Wie soll man sich da nur entscheiden? Die Auswahl an Gipfeln, die es auf den Lofoten zu erwandern gibt, ist schier unerschöpflich und wir fühlen uns fast ein wenig überfordert damit, eine Entscheidung zu treffen. Am liebsten würden wir jeden noch so kleinen Hügel mindestens einmal besteigen, nur um die Aussicht über blaue Fjorde, weisse Sandstrände und mit Bergen garnierte Inselgruppen aus möglichst vielen Blickwinkeln zu geniessen. Aber unsere Zeit hier im Norden ist beschränkt und mit jedem Tag und jeder Wanderung rückt die Abreise ein Stückchen näher. Wir müssen also eine Entscheidung treffen und heute fällt unsere Wahl für das Tagesprogramm auf den Guratinden.
Moment mal, Tagesprogramm? Ja, genau. Denn während wir uns auf den Lofoten befinden, herrscht gerade Mitternachtssonne, sodass wir es des öfteren schaffen, zwei Wanderung an einem Tag, oder sagen wir besser, innerhalb von 24 Stunden zu unternehmen. Einmal ein Tageswanderung und nach dem Dinner meist noch eine Abendwanderung. Gegen Mitternacht, wenn die Sonne fast am tiefsten Punkt steht, ist das Licht wunderschön weich und goldfarbig und wir sind beide mit den Kameras auf der Jagd nach fotografischen Highlights für unser Portfolio unterwegs.
Da die Nachtwanderung am Vorabend mal wieder länger gedauert hat und wir erst weit nach Mitternacht in unseren Betten lagen, machen wir uns erst nach einem ausgedehnten Frühstück ganz gemütlich auf den Weg nach Ramsvika. Den Guratinden besteigen wir somit zur Mittagszeit.
Ein bisschen sumpfig geht es im ersten Teil zu und her, aber das sind wir von den norwegischen Wanderwegen mittlerweile gewohnt. Bedachten Schrittes durchqueren wir das Tal unterhalb des eindrücklichen Doppelgipfels und schaffen es, den Abzweig bei Andjordbakkan trockenen Fusses zu erreichen. Schon im Aufstieg zum Sattel zwischen den beiden Gipfeln des Guratinden fasziniert mich die Aussicht auf den Buksnesfjord. Immer wieder muss ich stehen bleiben, um meinen Blick über die immer kleiner werdende Küstenlandschaft um mich herum schweifen zu lassen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Fjordes räkeln sich die Häuser von Leknes in der Mittagssonne und am Schiffsterminal liegt eines der Kreuzfahrtschiffe, die hier nahezu jeden Tag anlegen. Die direkt am Anleger liegenden Schiffe gehören eher zur kleineren Sorte und dennoch sind die Grössenverhältnisse zwischen dem Kreuzfahrtschiff und den umliegenden Gebäuden schlichtweg beeindruckend. Kolosse wie die "Mein Schiff" und ähnliche Giganten müssen ein Stück weiter draussen in der Bucht ankern und ihre Passagiere mit Booten an Land bringen.
Hier oben bekommen wir von dem Rummel und den Bussen, die die Touristen zu diversen Ausflügen in sämtliche Himmelsrichtungen verteilen, allerdings nichts mit. Wir sind stattdessen ganz für uns alleine. Seit wir während des Aufstiegs zum Sattel zwei Wanderern begegnet sind, haben wir bis zum Gipfel keine Menschenseele mehr angetroffen. Es herrscht eine herrliche Ruhe, die uns hier umgibt.
Am Gipfel haben wir es daher nicht eilig und lassen uns viel Zeit. Zeit für eine ausgiebige Mittagspause mit Leckereien aus dem Rucksack. Zeit, um die wärmenden Sonnenstrahlen zu geniessen und natürlich, um die unglaublich detailreiche Landschaft zu bestaunen, die uns nun zu Füssen liegt. Im Westen fällt unser Blick auf Gravdal und Leknes, ein Stück weiter südlich können wir sogar Ballstad erkennen, das sich unterhalb des Nonstinden an die Küste schmiegt. Im Süden dann das offene Meer, bis unsere Blicke auf die entfernten und im Dunst der Mittagsstunde nur schemenhaft erkennbaren Gipfel des norwegischen Festlands treffen.
An der Spitze des gegenüber liegenden Eilandes ragt der Steinetinden aus dem Meer und an dessen Fuss klammern sich die weniger Häuser der Siedlung Steine. Das Wasser rund um die kleinen vorgelagerten Inseln leuchtet in einem nahezu unwirklichen Türkis bis zu uns herauf und versprüht einen Hauch von Karibik. Ich weiss nicht, wie lange wir mit grossen Augen auf dem Gipfel des Guratinden gesessen und einfach nur in die Landschaft geschaut haben, aber es muss lange gewesen sein. Irgendwann ist unsere Brotzeitbox leer und mit steifen Gliedern stehe ich auf, um meine Beine zu lockern, bevor wir den Abstieg beginnen.
Hinunter geht es auf dem gleichen Weg wie im Aufstieg, aber langweilig wird es dennoch nicht. Jetzt kann ich beim Gehen in die anderen Richtung blicken, auf die Spitze des Himmeltindan hoch über dem Strand von Haukland und des Offersøykammen, dessen Gipfel einen unvergleichlichen Blick nach Westen bietet und somit ein perfekter Aussichtspunkt ist, um die Mitternachtssonne zu geniessen. Und der Rest des Nachmittages? Der verläuft ungefähr genau so entspannt wie die Zeit am Gipfel des Guratinden – mit einem Sonnenbad auf der Terrasse bei dem wir Pläne schmieden für den bevorstehenden Abend bei wolkenlosem Himmel und Mitternachtssonne.