Über den herbstlichen Lärchen
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StoriesSeptember 2024

Auf diesem herbstlichen Trailrun zur Bovalhütte erleben wir die atemberaubende, aber zugleich fragile Schönheit des Morteratschgletschers. Während die majestätischen Gipfel im Engadin zeitlos erscheinen, zeigt das immer schneller schwindende Eis die erschreckenden Auswirkungen des Klimawandels. Der Anblick der Gletscherspalten und der Rückgang des Gletschers hinterlassen eine tiefe Wehmut, gleichzeitig erinnert uns diese beeindruckende Landschaft daran, wie wichtig unser eigenes Handeln für die Zukunft der Natur ist.

Hinter uns steht die verlassene Bovalhütte. Im Sommer Anlaufpunkt für Wanderer und Bergsteiger, die in der Gletscherwelt des Engadins unterwegs sind, hält sie jetzt im Herbst bereits Winterschlaf. Verlassen liegt sie auf dem kleinen Plateau, hoch über den Eismassen, die weit unter uns mit unsichtbarer Geschwindigkeit ins Tal kriechen. Kein Alltagsgeräusch, keine Stimmen oder Verkehrslärm trügen diesen Moment, den wir hier ganz für uns alleine geniessen. Die Aussicht von der Bovalhütte muss man sich allerdings erst einmal verdienen.

Eigentlich sind wir ja Frühaufsteher, gehen gerne in den Morgenstunden los, um am frühen Nachmittag schon wieder die Beine hochlegen zu können. Im herbstlichen Hochgebirge schlagen die Uhren aber nach dem eigenen Takt und manchmal braucht es etwas Geduld. Zum Beispiel um darauf zu warten, dass die Sonne endlich so hoch steht, dass die ersten Sonnenstrahlen den Talboden des Val Morteratsch erreichen und wir unsere geplante Tour nicht bei frostigen Temperaturen starten müssen.

Gigantische Moräne

Es ist Herbst im Engadin. Die Lärchen leuchten verschwenderisch wie vergoldete Weihnachtsbäume und die Gipfel sind bereits leicht gezuckert. Vor einigen Tagen gab es dort oben, in grösseren Höhenlagen den ersten Schneefall. Bis zur Bovalhütte haben es die weissen Flocken aber noch nicht geschafft und wir freuen uns auf diesen herbstlichen Traillauf.

Etwas ausser Atem halte ich mir die flache Hand wie ein Sonnenschirmchen über die Augen. Die Sonne steht an diesem Herbsttag so tief über dem Morteratschgletscher und der Bellavista, dass ich kaum etwas erkennen kann von der Welt aus Fels und Eis, die sich vor mir ausstreckt und in die Höhe ragt. Piz Palü, Piz Zupo, Crast’ Agüzza und natürlich der berühmte Biancograt. Die majestätischen Bündner Riesen säumen die Arena rund um die Landschaft des Morteratschgletschers und der Anblick scheint zeitlos. Dabei verändert sich dieser Ausblick in rasender Geschwindigkeit.

Offene Wunden

Wehmütig blicke ich auf das gar nicht mehr so ewige, sondern eher schnell schwindende Eis. Jetzt, nachdem der heisse Sommer vorüber und der erste Schnee noch nicht gefallen ist, liegen die Gletscherspalten aper in der herbstlichen Sonne. Wie offene Wunden klaffen sie im Eis und entblössen die Verletzlichkeit dieses eisigen Riesen. Die Seiten sind gesäumt von Schutt und Geröll, dass immer mehr Fläche einnimmt, während die warmen Temperaturen an den Rändern des Gletschers Zentimeter um Zentimeter wegfressen. Diese Landschaft ist so schön, so gross und überwältigend und doch so empfindlich, dass man es sich als kleiner Mensch kaum vorstellen kann.

Vor rund 15’000 Jahren endete die letzte Eiszeit in unseren Breitengraden und damit begann auch der erst langsame, mittlerweile aber immer schnellere Rückgang des Morteratschgletschers. Seit circa 1860, als die Gletscherzunge noch ungefähr bis zum heutigen Bahnhof Morteratsch gereicht hat, hat sich vieles verändert. Die Eismassen des Gletschers haben nicht nur an Länge, sondern auch enorm an Dicke verloren und mit jedem weiteren Jahr nimmt die Geschwindigkeit des Rückgangs zu. Bis heute hat der Morteratschgletscher bereits rund zwei Drittel seines ursprünglichen Volumens verlorenen. Laut Untersuchungen der Universität Freiburg ist ein weiterer Rückgang selbst bei einer (nicht unbedingt zu erwartenden) günstigen Entwicklung unseres Klimas nicht aufzuhalten. Sogar eine wissenschaftliche Studie, die die künstliche Beschneiung des Gletschers untersucht hat, kam zum Ergebnis, dass der Rückgang nicht einmal mit dieser Massnahme zu stoppen wäre.

Falko hat um die Hütte herum einige Fotos gemacht und kommt nun zu mir auf die Hüttenterrasse. Ich merke, dass auch ihm der Anblick nahegeht. Vor 15 Jahren haben wir hier unsere ersten gemeinsamen Sommerferien verbracht, ich meine erste Hochtourenerfahrung gesammelt. Und immer wieder sind wir zurückgekommen, jedes Mal mit dem gleichen Ergebnis, dass wir ein Stück weiter laufen mussten, um die Gletscherzunge zu erreichen. Aber so wie wir diesen Prozess nicht aufhalten können, können wir auch nicht ewig hier stehen bleiben. Plötzlich bemerke ich, wie kalt mir eigentlich ist. Die Herbstsonne reicht nicht aus, um mein Shirt zu trocknen und ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Eine Fleeceschicht mehr und einen Müsliriegel später treten wir den Rückweg an. Über den teils flowigen, teils etwas verblockten Hüttenweg geht es zurück Richtung Hotel Morteratsch. Wo weiter oben noch krautige Pflanzen und niedrige Zwergsträucher die Wegränder säumen, empfangen uns weiter unten die Arven und goldenen Lärchen. Die Luft über dem sandigen Boden hat sich dank der Sonne mittlerweile ein wenig aufgewärmt und entspannt joggen wir die letzten hundert Meter durch das markante eiserne Gletschertor zurück zu unserem Ausgangspunkt am Bahnhof Morteratsch.

DIe Bovalhütte

Die Landschaft im Val Morteratsch gleicht einem Geschichtsbuch, einem Zustandsbericht als auch einem Blick in die Zukunft zugleich. So wie der Klimawandel in unserem Alltag oft verborgen bleibt, ist es hier nahezu unmöglich, die Folgen dieser Entwicklung auszublenden. Ich bin froh, dieses Naturwunder in dieser Intensität erleben zu dürfen. Vermutlich können wir den Morteratschgletscher nicht mehr komplett retten, dennoch bin ich überzeugt, dass jeder von uns durch das eigene Handeln dazu beitragen kann, in welche Richtung sich unsere Welt entwickeln wird.

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Über Marina Kraus

Marina Kraus
Marina erzählt in ihren authentischen Texten emotionale Geschichten und lädt unsere Community zu spannenden Gedankenreisen in atemberaubende Landschaften ein. Von den majestätischen Alpen bis zu den endlosen Weiten des Nordmeers nimmt sie ihre Leser auf sportliche Abenteuer mit und wirft einen Blick hinter die Kulissen. Als Wanderguide teilt sie ihre Leidenschaft für die grossen und kleinen Wunder der Natur und lädt euch ein, gemeinsam zur nächsten Wandertour aufzubrechen.
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