Sie sehen aus wie versteinerte Gletscher. Risse, Löcher, Spalten und Abgründe, die sich plötzlich auftun: Karstgebiete sind das zu Fels gewordenen Gegenstück der eisigen Gletscher, die von den hohen Gipfeln hinab ins Tal fliessen. Im Gegensatz zu Gletschern bewegen sich Karstgebiete allerdings nicht. Sie liegen stumm da, voller geheimnisvoller, trockener Stille und sorgen für ein breites Spektrum an Emotionen zwischen Staunen und Respekt. Staunen über die nahezu unwirkliche Landschaften, die durch das löchrige Gestein entstehen und Respekt vor den Gefahren, die von den Rissen, Spalten und Dolinen im Kalkgestein ausgehen.
Nachdem ich die spektakuläre Fahrt auf den 2'252 m hohen Sanetschpass hinter mich gebracht habe, beginne ich meinen Trailrun zur Cabane de Prarochet mit einem kurzen Abstieg. Am nur aus wenigen Gebäuden bestehenden Weiler Zanfleuron startet mein Aufstieg zur Hütte über die Karstfläche Lapis de Zanfleuron – ein Lauf, der mich auf den nächsten Kilometern bei insgesamt rund 800 Höhenmetern mitten hinein führen wird in diese einzigartige Landschaft östlich der über 3000 m hohen Les Diablerets.
Karstgebiete entstehen vor allem in Kalksteingebieten, wo das abfliessende Wasser natürliche Säuren enthält, die das Gestein langsam auflösen. Alpenweit bekannte Regionen sind die Gebiete rund um den Silberen in der Zentralschweiz oder das Tote Gebirge in Österreich rund um den Dachstein, welches für seine riesigen Dolinen berühmt und berüchtigt ist.
Unterhalb des Glacier de Zanfleuron erstreckt sich hier rund um die Cabane de Prarochet eine faszinierende Landschaft aus Felsformationen. Die Strukturen, die man hier antrifft, wirken fast wie aus einer anderen Welt, geformt durch die unbändige Kraft des Eises und die unermüdlichen Einflüsse der Witterung. Der obere Teil der Felsen, bis vor wenige Jahre noch unter einer dicken Eisschicht verborgen, zeigt sanft gerundete und glatt geschliffene Oberflächen. Weiter unten jedoch, wo das Gestein schon vor Jahrtausenden vom Eis freigelegt wurde, zeigt sich die rohe Gewalt der Erosion in voller Pracht. Eine typische Karstlandschaft ist hier im Laufe der Zeit entstanden: Tiefe, verschlungene Risse durchziehen den Fels, und gefährliche Dolinen verleihen dem Gelände eine geheimnisvolle Tiefe.
Der Wanderweg sucht sich den Weg des geringsten Wiederstandes durch diese an einen versteinerten Gletscher erinnernde Szenerie. Statt Gletscherspalten finde ich tiefe Gesteinsrisse, statt Gletschermühlen Dolinen, ab und an verziert durch kargen Bewuchs, der sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung um so malerischer ausmacht. Trotz der relativ geringen Distanz und Höhenmeter, die ich bei diesem Lauf hinter mich bringen werde, empfinde ich das Laufen als anspruchsvoll. Das scharfkantige Gestein und der ständig wechselnde Untergrund erfordern Konzentration, und aufgrund der rauen Oberfläche befürchte ich, dass die Sohlen meiner Laufschuhe nach dieser Unternehmung reif für die Mülltonne sind. Solcher Schrattenkalk ist ideal zum Felsklettern, da er sehr viel Reibung für die Kletterschuhe gibt. Für die eher dünn besohlten Trailrunningschuhe hingegen gibt es besseres, was ich den Tretern antun könnte.
Aber ich bin ja nicht hier, um meine Schuhe zu schonen. Ich möchte die Landschaft kennen lernen und einmal von dieser Seite ausserhalb der Wintersaison zur nach Süden hin steil abbrechenden La Tour St-Martin laufen. Warum ausserhalb der Wintersaison? Nun, Les Diablerets ist ein grosses Skigebiet oberhalb von Gstaad und unter dem Namen Glacier 3000 insbesondere im Winter stark frequentiert. Seine Ruhe findet man dann hier kaum (und Trailrunning ist im Winter auf 3000 m Höhe natürlich auch nicht möglich).
Nachdem sich der Wanderweg anfänglich noch durch mit Pflanzen bewachsene kleine Tälchen geschlängelt hat, habe ich diesen Bereich mittlerweile hinter mir gelassen. Das Landschaftsbild hat sich etwas verändert und überall dominieren riesige Karstflächen, zerrissen durch unzählige Spalten und Wasserrillen. Ab und an komme ich an einer tiefen Doline vorbei, bei der ein rasch hineingeworfener Blick keinen Grund erkennen lässt. Es ist eine der Hauptgefahren dieser teilweise richtig tiefen Löcher im Boden: im Winter, wenn Schnee liegt, sind sie überschneit und kaum zu erkennen. Die Gefahr ist also ähnlich wie auf einem verschneiten Gletscher, in die Doline einzubrechen und abzustürzen. Der ehemalige Leiter der Sicherheitsforschung des Deutschen Alpenvereins, Pit Schubert, hat in den von ihm herausgegebenen Büchern "Sicherheit und Risiko in Fels und Eis" eindrückliche Beispiele beschrieben, in denen Personen auf Alleingängen in absolute Grenzsituationen geraten und nur mit einer riesigen Portion Glück überlebt haben – oder auch nicht. Auch der SAC beschreibt Beispiele für glimpflich, aber auch tödlich verlaufende Stürze in Dolinen. Die wichtigste Regel lautet daher, schneebedeckten Karstgebieten niemals alleine zu durchqueren, solange man nicht absolut sicher sein kann, sich noch auf dem markierten Weg zu befinden.
Während ich mir in Gedanken gruselige Szenen mit endlos tiefen Löchern und mit Funktionsbekleidung behängten, klappernden Skeletten am Grund ausmale, habe ich die inmitten dieser Gesteinswüste gelegene Cabane de Prarochet erreicht. Kaum ist sie von der Umgebung zu unterscheiden, so perfekt passt sich die kleine Hütte in das Karstgebiet ein. Ab hier wird mich der weitere Weg für weitere knapp 400 Höhenmeter bis an den Fuss der markanten Tour de St-Martin führen, einem 2'907 m hohen Felszacken, der sehr markant hoch über dem Rhonetal wacht und nach Süden hin in steilen Felswänden ins Tal nach Derborence abbricht. Direkt neben diesem Felsturm befindet sich das Refuge l'Espace mit spektakulärer Aussicht nach Süden, welches mein finales Ziel und höchster Punkt für diesen Lauf ist.
War der Wanderweg bis zur Cabane Prarochet noch leidlich gut erkennbar, so ändert sich das nun. Man muss doch gut schauen, um die weiss-rot-weissen Markierungen nicht zu übersehen, obwohl man sich zumindest bei guter Sicht hier kaum verlaufen kann – zu markant ragt der Felszahn der Tour de St-Martin vor mir auf. Dennoch empfiehlt es sich, auf der Route zu bleiben, da man sonst schnell vor mehrere Meter hohen Kalkbändern steht, die teilweise mühsam und nur mit leichter Kletterei zu überwinden sind.
Ich merke, dass ich in den Bereich der Landschaft komme, der noch vor nicht allzu langer Zeit mit Gletschereis bedeckt war. War vorher die steinige Oberfläche sozusagen blank gefegt, so liegt hier noch viel Schutt herum, der vom Eis über viele Jahre hinweg transportiert wurde. Am Refuge l'Espace angekommen, verdichten sich die Wolken plötzlich und von Süden drückt der Wind dichte Schwaden auf die Tsanfleuron-Hochebene. Und auch wenn sich keine dauerhafte Nebeldecke bildet, bin ich dennoch froh über meinen GPS-Track, denn im Nebel würde sich der Rückweg ohne Orientierung eindeutig sehr schwierig gestalten.
Meinen Rückweg trete ich nun alsbald an und renne zurück zur Cabane de Prarochet, ab der ich jedoch einen weiter nördlich verlaufenden Weg für den weiteren Abstieg wähle, der mich in einem Bogen zurück zu meinem Ausgangspunkt am Sanetschpass führen wird. Rund 200 Höhenmeter bergab muss ich hinter mich bringen, bevor ich die riesige Kalkplatte verlassen und auf einem "normalen" Wanderweg weiterlaufen kann. Es empfiehlt sich, diesen Trailrun im Uhrzeigersinn anzugehen, da man dadurch den technisch anspruchsvolleren Teil im langsameren Aufstieg angeht, während man im Abstieg zügig auf dem flowigen Wanderweg in Richtung Sanetschpass läuft. Unter den felsigen Abbrüchen des Sanetschhore bringt mich der Weg nach wenigen Kilometern zum Ende meines Laufs und von der Passhöhe aus wartet nun nur noch die aussichtsreiche Fahrt zurück ins fast 1'800 m tiefer gelegene Rhonetal auf mich.
Die Rundtour via Cabane de Prarochet ist eine landschaftlich eindrückliche und nicht ganz alltägliche Trailrunning-Strecke, die nicht unbedingt durch ihre Länge sowie Höhenmeter beeindruckt, sondern mit landschaftlichen Reizen überzeugt und Läufer und Läuferinnen technisch fordert. Wer möchte, könnte sogar auf den Rückweg verzichten, nach Les Diablerets mit der Seilbahn hinab fahren und von dort aus mit den öffentlichen Verkehrsmitteln wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehren.