„Deutschland hat nach Hitzesommer nur noch vier Gletscher“. „Alpengletscher schmelzen im Rekord-Tempo“. „Schweizer Gletscher verlieren in einem Jahr 6% ihrer Gesamtmasse.“ Die Liste der Medienmitteilungen, Unmengen von Studien und Forschungsergebnissen wird länger, länger und länger. Jahr für Jahr kommen neue Superlative hinzu, Sommer für Sommer geschieht etwas, was neben dem grossen Sorgenkind CO2 eher weniger im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung steht: das unwiederrufliche Abschmelzen der Gletscher durch den Klimawandel.
Der Sommer 2022, ein trauriges Rekordjahr für das Gletschereis
Es ist Anfang Juli 2022, ein heisser Sommertag in den Schweizer Alpen, genauer gesagt im zweitheissesten Sommer seit 1984. Bereits im Juni diesen Jahres herrschten vielerorts weit über 30 Grad, die Nullgradgrenze liegt häufig über 4000 Meter, teilweise sogar bei 4500 Meter. Der höchste Berg der Schweiz, die Dufourspitze, schafft es gerade mal auf gute 100 Höhenmeter mehr.
Der Sommer 2022 wird als der bisher schlimmste Sommer für die Gletscher der Alpen in die Geschichte eingehen. Ob im Engadin, im Berner Oberland, im Wallis, in den vergletscherten Regionen Österreichs, Italiens oder rund um die kümmerlichen Reste der mittlerweile nur noch vier „Gletscher“ Deutschlands: überall hat die Eisschmelze Geschwindigkeiten und Dimensionen erreicht, die selbst erfahrene Forscher überrascht hat. Die mittlere Dicke an Eisverlust auf den Schweizer Gletschern beträgt alleine im Jahr 2022 im Durchschnitt drei Meter, einige Gletscher im Wallis oder Engadin haben in einem Sommer bis zu sechs Meter an Dicke verloren.
In diesem Artikel möchten wir den Gletschern der Alpen einen Raum schaffen, durch Fakten, aber auch mit Bildern, den Eindruck zu hinterlassen den sie verdienen. Unsere Reise führt uns vom Morteratschgletscher im Engadin über den Glacier de Cheilon im Wallis zu einer mittlerweile eingestürzten Gletscherhöhle bei Arolla. Aber auch die Gletscher Nordeuropas sollen ihren Raum erhalten, bis wir abschliessend auf die grossen Fragen rund um die Zukunft der Gletscher im Klimawandel eingehen werden.
Morteratschgletscher, Engadin
Herbst 2021, Val Morteratsch im Engadin. Ich bin zum Zeitpunkt des Besuchs für diesen Beitrag 36 Jahre alt, habe viele Jahre meines Lebens auf alpinen Touren in den Alpen verbracht. Bereits als Kind habe ich mit meinen Eltern im Sommerurlaub das Engadin besuchen können, habe dort stolz meine erste „richtige“ Hochtour auf den 3751 m hohen Piz Morteratsch unternehmen dürfen. An einem Tag, komplett aus dem Tal vom Camping Morteratsch aus, am Abend wieder zurück. Rund 2000 Höhenmeter, ein zackiger Anstieg für einen Heranwachsenden.
Es folgten weitere Besuche im Engadin, viele Touren rund um und auf den bekannten Piz Bernina (4049 m), im Winter wie im Sommer. Immer prominent im Blickfeld: der beeindruckende Vadret da Morteratsch, der Morteratschgletscher, der nach einem rund 45-minütigen Fussmarsch ab dem gleichnamigen Bahnhof der Rhätischen Bahn beginnt, im Herbst eingebettet in die von Lärchenwäldern gesäumten Berghänge des Engadins.
Der Gletscher damals: ein am Anfang sanft geneigter Riese, eine enorme Gletscherzunge aus aperem Eis, ideal geneigt um die ersten Gehversuche mit Steigeisen unternehmen zu können. In rund einer Stunde gelangte man ungefähr auf die Höhe der Bovalhütte, einer SAC-Hütte am westlichen Rand des Morteratschgletschers auf 2494 Meter Höhe. Von Osten her bricht der Vadret Pers vom Piz Palü her kommend mit einem beeindruckenden Gletscherbruch voller Seracs und Spaltenzonen zum Morteratschgletscher hin ab, weiter taleinwärts wartet der berüchtigte Buuch, ein Spaltenwirrwarr unterhalb des Piz Bernina auf die Winteralpinisten.
Zeitsprung, mehr als 20 Jahre später. Der Herbst 2021 ist ein normaler Herbst, wobei, was ist in diesen Zeiten schon normal. Der Sommer davor war kein markanter Hitzesommer, trotzdem herrschen seit vielen Jahren stetig und dauerhaft deutlich zu warme Temperaturen. Der Vadret Morteratsch präsentiert sich in einem traurigen Zustand. Über einen Kilometer Länge und viele Meter Dicke hat dieser stolze Eisstrom in dieser Zeitspanne zwischen 2001 und 2021 eingebüsst. Die Eiszunge ist einer Geröllhalde gewichen, von sanfter Neigung kann keine Rede mehr sein, man sieht sie aus dem Tal mittlerweile sogar nicht einmal mehr. Viele neue Tafeln sind auf dem Gletscherlehrpfad hinzugekommen, alle zeugen sie von der enormen Geschwindigkeit, mit der sich der Gletscher in den vergangenen zwei Jahrzehnten zurückgezogen hat – und ein Ende ist nicht in Sicht.
Ungefähr 2014/2015 schmolz der Gletscher so weit ab, dass ein riesiger Felsriegel zum Vorschein kam, ein Todesurteil für das umliegende Eis: der sich in der Sonne erwärmende Fels beschleunigte das Abschmelzen nur noch mehr. Das Resultat wenige Jahre später: eine rund 80 m hohe Felsstufe, mit sandigem Schutt bedeckt, der Gletscher hat sich in das Becken dahinter zurückgezogen.
Das aufschlussreiche und umfangreiche Kartenmaterial der Schweiz von Swisstopo zeigt den Rückgang zwischen 2001 und 2021 eindrücklich:
Vadret da Morteratsch 2001
Im Jahr 2001 ist von der heute sichtbaren massiven Felsstufe noch nichts zu sehen, die Gletscherzunge ist eine sanft auslaufende Eiszunge, die ohne Probleme am Ende des Gletscherlehrpfads betreten werden kann.
Vadret da Morteratsch 2021
2021 hat die Gletscherzunge gegenüber den Jahr 2001 rund 500 m an Länge verloren und hat sich über den markanten Felsabbruch zurückgezogen. Das Flussdelta des Schmelzwassers ist deutlich grösser geworden.
Der Morteratschgletscher wird seit rund 150 Jahren vermessen und erforscht. Mithilfe der gesammelten Daten und unter Berücksichtigung der im Jahr 2022 aktuellsten Daten für die Schweizer Klimaszenarien (CH2018) wurde von der Universität Freiburg ein Gletschermodell entwickelt, welches die Entwicklung des Gletschers unter der Annahme von keinem bis hin zu starkem Klimaschutz beeindruckend visualisiert.
Die ernüchternde Erkenntnis ist, dass (unabhängig von den ergriffenen Massnahmen zum Schutz des Klimas) der Rückgang des Vadret da Morteratsch bis hin zu einem Bruchteil seiner heutigen Ausdehnung selbst mit rigorosestem Klimaschutz nicht aufzuhalten ist. Der heutige Anblick, den vermutlich jeder Besucher des Engadins kennt und der beeindruckende Ausblick in die mit weissblauen Gletschern bedeckte Arena des Bernina-Massivs: ab Mitte diesen Jahrhunderts (sprich bereits in rund 20-30 Jahren) wird es diesen Anblick so nicht mehr geben, in 40 Jahren werden lediglich die höchsten Gipfel noch eine weisse Kappe tragen.
Glacier de Cheilon, Unterwallis
Ortswechsel in den Westen der Schweiz, ins Val d’Hérens im Wallis. Vom malerischen Bergdorf Arolla aus führt mich mein Weg heute im Juli 2022 hinauf zum Pas de Chèvres, einem 2854 Meter hohen Übergang und einer der Zustiege zur Cabane des Dix. Die SAC-Berghütte ist Ausgangspunkt für verschiedene Hochtouren und im Sommer wie im Winter im Rahmen der Haute Route stark frequentiert.
Der Aufstieg ist eine gemütliche Wanderung ohne technische Schwierigkeiten, dafür mit einer starken Aussicht über das grosse Becken unterhalb des markanten Mont Blanc de Cheilon. Die Überschreitung des Pigne d’Arolla und des Mont Blanc de Cheilon ist eine mittelschwere Hochtour, wenn die Bedingungen es zulassen. Herrscht Blankeis, wird die Gratüberschreitung ernst, schaut man sich heute hier um, scheint genau das der Fall zu sein.
Wir erinnern uns: es ist Anfang Juli, der Sommer in den Hochalpen hat also gerade erst begonnen.
Am Pass angekommen, ist meine gute Stimmung aus dem Aufstieg schlagartig verschwunden. Der Blick die steile Westseite des Pass hinab auf den Glacier de Cheilon: bedrückend. Statt Eismassen sehe ich Schuttmassen, die weissen Flecken mit Schnee oder Eis muss ich richtiggehend suchen. Apere Felsen und schuttige Hänge bis auf weit über 3000 Meter Höhe, der Gletscherstrom ein reiner Strom aus Schutt und Gestein.
Direkt unterhalb von mir: ein riesiger Gletschersee, bei welchem ich mir sicher bin, dass er bei einem meiner letzten Besuche hier im Jahre 2012 noch nicht vorhanden war. Ein erneuter Blick in die historischen Karten von Swisstopo zeigt, dass meine Vermutung richtig ist. Wie viel Eis muss schmelzen, damit sich ein über 500 m langer Gletschersee bilden kann? Wie wird sich dieses Wasser auf den weiteren Verlauf der Gletscherschmelze auswirken, da die Entstehung von Gletschersee bekanntlich das Abschmelzen beschleunigt und sich bei in einem See endender Gletscherzunge die Fliessgeschwindigkeit im Durchschnitt verdoppelt?
Glacier de Cheilon 2014
Der Glacier de Cheilon im Jahr 2014, noch ohne Gletschersee. Die Gletscherzunge ist noch eine zusammenhängende Eismasse.
Glacier des Cheilon 2021
Der Glacier de Cheilon 2021, nur sieben Jahre später, mit einem rund 500 Meter langen Gletschersee rund um die Gletscherzunge.
Eines der Ziele meiner Landschaftsfotografie ist es, die unumkehrbare Vergänglichkeit der Gletscher in all ihrer deprimierenden und dennoch majestätischen Kraft zu zeigen. Bei Bildern wie dem folgenden kommt dieser Ansatz regelmässig an seine Grenzen, da die schiere Grösse und Ausdehnung (in diesem Fall des Gletschersees) jegliche normale Bildgrössen bei weitem sprengen. Die Grössenverhältnisse sind schwer fassbar – wer genau hinschaut, wird direkt unterhalb der in den See mündenden Eiszunge vier Alpinisten erkennen, die sich in Richtung Cabane des Dix bewegen.
Es ist ein deprimierender Anblick, der sich mir hier bietet. Wie an vielen anderen Gletschern der Alpen (und selbst im hohen Norden Norwegens) zeigt sich die durch den Klimawandel nachweislich menschgemachte Zerstörung dieser einzigartigen Landschaft in voller Härte. Zu wissen, dass diese einmalige Gletscherwelt vermutlich niemals (und vor allem nicht zu meinen Lebzeiten) zurückkehren wird, macht mich wie so oft nachdenklich, traurig und wütend.
Bas Glacier d’Arolla, Unterwallis
Marina und ich sind auf dem Zustieg über das nur noch aus Geröll bestehende Gletschervorfeld hinauf zu einer Eishöhle, die sich im Bas Glacier d’Arolla vor kurzem gebildet hat. Auf gut 2300 Metern Höhe ist der riesige Eingang schon von Weitem sichtbar, tiefblau bis weiss-grau schimmmert das Eis je nach Licht. Rund herum jedoch: nur Geröll. Kein Eis weit und breit, nur einige hundert Höhenmeter weiter oben hängt der Glacier du Mont Collon über der Felskante.
Eishöhlen sind fragile Gebilde, ihr Betreten nicht ungefährlich und insbesondere während der Sommermonate zu unterlassen. Die Temperaturen heute sind kalt, sie sind es schon seit einigen Tagen, es ist später Herbst und der nahende Winter hat bereits seine Spuren hinterlassen. Dem Eigenschutz misst offensichtlich nicht jeder die nötige Bedeutung bei, neben uns sind noch einige wenige andere Personen hier, viele davon nicht mal mit Helm.
Die Ausmasse der Gletscherhöhle sind enorm, geschätzt ist sie rund 100 Meter lang und an der höchsten Stelle in der Mitte des Eistunnels sicherlich an die 10 Meter hoch. Die Masse an Eis, die hier ausgehöhlt wurde, ist nur schwer zu erfassen – es ist fast nicht zu glauben, dass all das einzig und allein durch die Kraft des Wassers entstand.
Im Inneren des Eises können wir die unglaublichen Strukturen der Eishöhle bewundern, tiefblau schimmert das Eis, während am Boden das Schmelzwasser des Gletscherbachs in einem dünnen Rinnsal dahinplätschert. Heute ist der kleine Bach kaum zu sehen, man kann sich aber bei den Dimensionen der Eishöhle ausmalen, wie es hier im Frühjahr während der Schneeschmelze aussieht, denn dieser Bach ist es auch, der die Eishöhle massgeblich mitgeformt hat.
Das ewige Eis, zu Wasser geworden und ins Tal gerauscht, von wo aus es seinen Weg nicht mehr zurückfinden wird, um als neuer Schnee und späteres Eis den Gletscher aus seiner Nährzone zu speisen.
Nachdenklich sind wir auf dem Rückweg, durch gelbe Lärchenwälder geht es wieder nach Arolla, dem Ausgangspunkt unseres kleinen Ausflugs in das Innere eines Gletschers. Auch hier ergibt eine nachträgliche Recherche den eindeutig sichtbaren Rückgang des Gletschers. Wenige Dutzend Jahre mögen für uns Menschen ein langer Zeitraum sein, bedenkt man jedoch die Lebensdauer eines Gletschers, bei der wir über viele tausend Jahre sprechen, ist die Geschwindigkeit des nun einsetzenden Rückgangs nur noch eines: erschreckend.
In der Nacht vom 19. auf den 20. September 2022 passierte übrigens mit dieser Eishöhle, was unweigerlich passieren musste: die ohnehin durch die hohen Temperaturen dem Untergang geweihte Gletscherhöhle brach um 1:48 Uhr in der Nacht zusammen, als ein schwaches Erdbeben in der Region des Mont Collon auftrat. Ein natürliches Bauwerk, ja Kunstwerk, welches einige wenige Menschen entdecken durften, ist damit für immer Geschichte, weitere Tonnen von Eis werden nun rasch schmelzen und als rauschendes Wasser durch das Val d’Hérens hinab in die Rhone fliessen.
Beobachtungen wie diese gibt es viele. Seien es Ereignisse wie im deutschen Ahrtal im Sommer 2021 oder die Situation in Pakistan im Jahr 2022, die Millionen von Menschen ihre Heimat gekostet hat. Die in ihrer Häufigkeit zunehmenden Ereignisse wie diese sollten uns aufrütteln, insbesondere in Kombination mit den vielen anderen Situationen in Europa und dem Rest der Welt, in denen die globale Klimaerwärmung bereits seit vielen Jahren für jeden von uns sicht- und spürbar ist.
Aber tut es das auch?
Gletscher im Klimawandel in Nordeuropa
Dass die Gletscher in Mitteleuropa und damit dem Alpenraum seit Jahrzehnten massiv an Masse und Länge verloren haben und dieser Trend ungebremst weitergeht, ist für die Bevölkerung vergleichsweise einfach selber mit anzusehen. Insbesondere im Sommertourismus, aber auch im Winter für die Skifahrer und Alpinisten fallen die kleiner werdenden Wahrzeichen der Alpen ins Auge, auch medial findet dieses Thema vermehrt Beachtung. Einige bekanntere Gletscher wie der Morteratschgletscher oder der Rhonegletscher in der Nähe des Furkapass (der Schweizer Landschaftsfotograf Tobias Ryser hat das Wasserforschungsinstitut der ETH als Fotograf begleitet und die Arbeit der Forscher am Gletschersee auf eindrucksvollen Bildern festgehalten) schaffen es mittlerweile doch verhältnismässig häufig in die Medien, leider meistens mit Negativschlagzeilen über neuerliche Rückgangsrekorde.
Die Gletscherschmelze durch die globale Erwärmung macht allerdings auch vor den teilweise riesigen Gletschern in Nordeuropa keinesfalls halt. Selbst der grösste europäische Inlandgletscher, der monumentale Jostedalsbreen, wird im Jahr 2100 vollständig verschwunden sein, mit deutlichen Auswirkungen auf die Trinkwasserreserven. Führt man sich vor Augen, dass das Eis des Jostedalsbreen zwischen 50 und stellenweise bis zu 600 Meter dick ist, kann man sich die schier unfassbare Menge an gefrorenen Wasser vorstellen, die bei einer Gesamtfläche von über 450 qm zusammenkommen werden.
Die Auswirkung sind aber natürlich bei weitem nicht nur lokal spürbar, sondern sorgen in Kombination mit allen schmelzenden Gletschern weltweit für Folgen, die alle Menschen betreffen, nicht nur die jeweiligen Tourismusdestinationen.
Warum die Gletscherschmelze uns alle betrifft
Ist der Gletscherschwund eher ein Luxusproblem für Touristen, Skifahrer und Alpinisten? Oder hat es noch weitere Auswirkungen, die auch andere Teile der Bevölkerung treffen? Stellt man sich diese Frage, so scheint es auf den ersten Blick ein eher kosmetisches Problem zu sein. Zu weit weg sind die Eismassen für die meisten Menschen, zu wenig Verständnis ist für dieses sensible Ökosystem in grossen Teilen der Bevölkerung vorhanden. Diese Betrachtung ändert sich aber schnell, wenn wir uns Gedanken darüber machen, aus welchen Quellen wir einen Teil unserer erneuerbaren Energien beziehen, warum die Alpen als das Wasserschloss Europas bezeichnet werden und warum auch bekannte alpine Touren wie am Matterhorn oder am Mont Blanc bereits heute in den Sommermonaten teilweise nicht mehr durchgeführt werden können.
Strom aus Wasserkraft
Schaut man sich die grossen Stauseen wie den Lac de Dix im Kanton Wallis oder rund um den Grimselpass im Berner Oberland in der Schweiz an, werden schnell unvermeidliche Fragen nach dem Ursprung all des Wassers laut. Wird es in Zukunft immer noch möglich sein, mit diesen monumentalen Bauwerken, einzig und allein für die Energieerzeugung erbaut, dem gesteigerten Strombedarf gerecht zu werden? Die unausweichliche Energiewende steht erst noch bevor, doch schon jetzt leiden viele (Stau-)Seen unter den immer trockeneren Sommern und sind immer wieder nur zu Teilen gefüllt. Wenn dann noch der als massgeblich zu erachtende Zustrom durch die Gletscher(-schmelze) wegfällt, was passiert dann?
Trinkwasserreserven in den Böden
Es ist zumindest theoretisch denkbar, die Energieerzeugung durch abnehmende Wasserkraft mit anderen erneuerbaren Energiesystemen zu ersetzen, beispielsweise mit Solarenergie oder Windkraft. Was wir jedoch nicht kompensieren können, ist die Trinkwasserversorgung. Bei diesem lebensnotwendigen Elixir vertrauen weltweit rund 1,6 Milliarden Menschen auf die Existenz der Gletscher. Für diesen Teil der Menschheit kommt das Trinkwasser mehr oder weniger direkt als schmelzendes Wasser von den Gletschern aus den Bergen. Ein Ausbleiben des Wassers würde zweifelsohne zu sozialen, politischen und ökologischen Spannungen in den betroffenen Regionen führen.
Hinzu kommen ganz neue, auf den ersten Blick eher abwegige Probleme wie die Freisetzung gefährlicher Keime aus dem schmelzenden Eis. Es kommt angesichts der nicht mehr aufzuhaltenden Gletscherschmelze unweigerlich die Frage auf, ob die Weichen für dieses düstere Zukunftsszenario bereits gestellt sind.
Die Schweiz gilt als das Wasserschloss Europas, was sie dem enormen natürlichen Vorkommen von Wasserreserven in den Gletschern, Seen und Flüssen zu verdanken hat. Als eines der wasserreichsten Länder Europas wird man sich jedoch auch dort zukünftig mindestens lokal und zeitlich begrenzt auf Wasserknappheit einstellen müssen – eine für viele in Anbetracht der Selbstverständlichkeit der Verfügbarkeit von Trinkwasser einschneidende und undenkbare Entwicklung.
Wie wird eine Bevölkerung, die sich über Jahrzehnte an ein Leben im Überfluss (in Bezug auf die Verfügbarkeit lebensnotwendiger Ressourcen) gewöhnt hat, auf solche Knappheiten reagieren?
Auftauender Permafrost und Naturkatastrophen
Beträgt die mittlere Jahrestemperatur in einer bestimmten Region maximal -1° Celsius, so entsteht dort Permafrost im Boden. Dabei wird sämtliches Material im Boden, sei es Sand, Stein, Kies oder Erde, durch das gebildete Eis sozusagen zusammengeklebt und bildet eine stabile, bis zu mehreren hundert Metern dicke Masse. Diese Stabilität kommt den Regionen zugute, in denen Permafrost entsteht, in den Alpenregionen sind das expositionsabhängig Höhenlagen oberhalb von rund 2100 Metern.
Nun sind in den Bergen viele dieser Permafrostböden weniger Böden, sondern vielmehr Hänge. Welche Konsequenzen ein Auftauen des Permafrost auf diese Strukturen hat, mussten beispielsweise die Menschen am 23. August 2017 in Gondo im Bergell erfahren, als sich am 3369 Meter hohen Piz Cengalo eine berühmte alpine Route mitsamt mehreren Millionen Kubikmetern Granit in die Tiefe verabschiedeten. Der Permafrost, der diese Jahrtausende alten Felstrukturen zusammengehalten hatte, war aufgetaut.
Nun hat der auftauende Permafrost erst einmal keinen direkten Bezug zum Abschmelzen der Gletscher (ausser es wird nun zusätzlich Methan freigesetzt, welches die Erwärmung der Erdatmosphäre zusätzlich stark ankurbelt). Beide Abläufe entstehen durch die zu hohen Durchschnittstemperaturen, führen aber in den Regionen unterhalb des Gletschers zu ähnlichen potentiellen Katastrophen. Durch Permafrost verlieren Berghänge ihre Stabilität und können in Murgängen, Gesteinslawinen oder Bergstürzen ins Tal rauschen. Dort können die durch die Materialmassen aufgestauten Flüsse über ihre Becken treten und im weiteren Verlauf für Überschwemmungen in den bewohnten Gebieten sorgen.
Ähnliches geschieht teilweise durch die sich durch die Gletscherschmelze bildenden Gletscherseen: die grossen Mengen an Wasser können durch die Geländestrukturen zum Teil gar nicht gefasst werden, was zum Brechen von Geländebecken mit nachfolgenden Flutwellen führen kann – auch dies wiederum mit den entsprechenden Folgen für die bewohnten Regionen unterhalb. Der Gletschersee auf dem Gletscherplateau der Plaine Morte im Unterwallis ist ein solches Beispiel.
Zunehmende alpine Gefahren
Just beim Schreiben dieses Artikels zeigt sich auf tragische Weise eine potentielle weitere Gefahr der schmelzenden Gletscher und den auftauenden Permafrostböden in den Alpen. Beim Abbruch eines riesigen Gletscherstücks auf der Marmolata in Südtirol sterben 11 Menschen, viele weitere werden zum Teil schwer verletzt. Bei Rekordtemperaturen stürzten viele Tonnen Eis und Gestein in die Tiefe, überrollten einen beliebten und stark frequentierten Zustieg auf den höchsten Berg der Dolomiten und zeigen erneut auf, wie fragil das System Gletscher mittlerweile geworden ist.
Eisabbrüche gab es schon immer, sie sind normal und gehören zum Leben eines Gletschers einfach mit dazu. Dass sich die wärmeren Temperaturen mit einhergehender steigender Nullgrad-Grenze jedoch auf die ohnehin labile Stabilität von Eis und auch Fels im Hinblick auf den Permafrost auswirken, ist ebenfalls unbestritten.
Neben Abbrüchen von Seracs spielt auch hier der auftauende Permafrostboden eine massgebliche Rolle. Viele alpine Routen führen durch Gelände, welches letzten Endes nur durch den Permafrost in einem stabilen Zustand gehalten wird. Lässt dieser natürliche Kit nach, steigt damit die Gefahr für unberechenbare Gefahren wie Steinschlag bis hin zu Bergstürzen. Das berühmt-berüchtigte „Couloir des Todes“ am Zustieg zum 4807 Meter hohen Mont Blanc ist ein ebenso bekanntes wie gefürchtetes Beispiel für die Gefahren, die von Steinschlag ausgehen. Mit der tageszeitlichen Erwärmung waren solche Orte schon immer hochgradig gefährlich. Steigen nun die Temperaturen generell, kann man bereits von russischem Roulette sprechen, wenn man solche Routen begeht – insbesondere, wenn es sich wie im Fall des Grand Couloir du Goûter um den Normalweg auf den höchsten Berg der Alpen handelt, der mit über 20’000 Bergsteigern pro Jahr entsprechend frequentiert ist.
Bleibt noch der Gletscherschliff, der überall dort entsteht, wo sich das Gletschereis zurückgezogen hat. Die glattgeschliffenen Felsen, oftmals mit einer dünnen, sandigen Schicht überzogen, sind ein Alptraum auf jeder alpinen Route. Dieses Gelände ist meistens nicht absicherbar, gleichzeitig jedoch extrem heikel und wird aufgrund der frühen Startzeiten bei Hochtouren tendenziell in der Dunkelheit in den tieferen Lagen des Berges passiert. Auch hier sorgt der Rückgang der Gletscher für steigende Gefahren und ein erhöhtes Unfallpotential.
Auch am im folgenden Bild dargestellten Mont Collon in den Walliser Alpen wird ein grosser Abbruch des beeindruckenden Gletschers auf dem Gipfelplateau in naher Zukunft erwartet. Regelmässige Messungen und Beobachtungen sollen Schlimmeres verhindern, aber auch hier führt insbesondere im Winter eine bekannte Skitourenroute in unmittelbarer Nähe vorbei. Bleibt zu hoffen, dass ein solcher Abbruch eher in den Sommermonaten passiert, wenn das Gebiet unterhalb der Nordflanke einsam und wenig begangen ist.
Sind die Gletscher noch zu retten?
Die Antwort von Forschungsinstituten und Wissenschaftlern auf diese Frage lautet leider ganz klar: nein. Der Kipppunkt für die Gletscher ist in vielen Regionen der Erde bereits überschritten.
Alle technischen Versuche, beispielsweise mit Vliesabdeckungen, sind zwar im kleinen Rahmen wirksam, für einen grossflächigen Einsatz aber einerseits unsinnig und vor allem zu teuer. Die einzige wirkliche Hilfe wäre eine sofortige massive Reduktion der Treibhausgase. Ein zunehmend unrealistisches Szenario, denn Stand 2022 steuert die Welt eher auf eine globale Erwärmung von 3-4° Celsius zu, regional teilweise sogar mehr. Die Schweiz wird bei diesen nicht als „Eventuell-Szenarien“, sondern als sehr realistisch zu betrachtenden Szenarien spätestens in 100 Jahre praktisch eisfrei sein. Selbst beim theoretischen kompletten und sofortigen Stop von weiteren CO2 Emissionen würden die Gletscher weitere mehr als 30% ihrer Masse verlieren.
Auf die Menschen kommen daher zunehmend drängende Fragen zu den Themen Stromversorgung, Umgang mit durch Gletscherschwund bedingten Naturkatastrophen zu, vor allem aber dürften uns Fragen rund um das Trinkwasser noch einiges Kopfzerbrechen bereiten.
Ungefähr 2021 machte ein Versuchsprojekt des Schweizer Glaziologen Felix Keller Schlagzeilen, bei dem es um die rein durch Druck von Schmelzwasser betriebene künstliche Beschneiung des Vadret da Morteratsch ging, um das Abschmelzen des Gletschers durch die schützende Schneeschicht zu verlangsamen. Auf den ersten Blick ein nahezu aussichtsloses, teures Vorhaben, welches einige Kritik nach sich zog. Auf den zweiten Blick wird man sich in Zukunft jedoch fragen müssen, ob die vermeintlich gesunde Natur oder die Trinkwasserversorgung als wichtiger zu erachten ist – und welche Optionen alternativ überhaupt bestehen.
Gletscher im Klimawandel sind unübersehbare Indikatoren für die Erderwärmung
Der weltweite Gletscherschwund betrifft – und das kann man bei weit über einer Milliarde direkt und indirekt vom Gletscherwasser abhängiger Menschen so sagen – uns alle. Wir können die Gletscher als einen der am besten und einfachsten sichtbaren Indikator für die menschgemachte Klimaerwärmung ansehen. Der Zugang zu diesen monumentalen Bauwerken der Natur ist für viele Menschen einfach, der Zusammenhang „warm bedeutet Eis schmilzt, wärmer bedeutet Eis schmilzt schneller“ für jeden fassbar und verständlich.
Es bleibt zu hoffen, dass wir Gletscher nicht mehr nur als kurze Sightseeing-Attraktionen wahrnehmen, sondern aus den Beobachtungen unsere Schlüsse ziehen und diese in das eigene Handeln im Sinne der Nachhaltigkeit mit einfliessen lassen. Das kann bei der Ferienplanung anfangen, auf dem täglichen Weg zur Arbeit oder beim Einkaufen von Lebensmitteln. Denn eine deutlichere Warnung werden wir vermutlich nicht mehr erhalten, ohne das eine ungleich unmittelbarere Auswirkung auf jeden Einzelnen von uns zu erwarten ist.