Es ist stockdunkel um uns herum. Als wir um die Ecke biegen, reflektiert nur das Licht unserer Stirnlampen in den Scheinwerfern unseres Vans, den wir endlich erreichen. Schnell sind die Schuhe ausgezogen und wir huschen in die wohlige Wärme, die uns hier erwartet. Ich lasse mich auf den Sitz plumpsen — endlich Windstille.
Wir sind am Grimselpass und haben unseren Van auf dem offiziellen Stellplatz etwas abseits der Passstrasse geparkt. Mittlerweile ist es halb elf am Abend. Vor genau fünf Stunden sind wir hier aufgebrochen zu unserer Wanderung. Mit Fotoausrüstung und Abendessen in den Rucksäcken ging es für uns in den Abendstunden den Berg hinauf.
Warum wir am Abend wandern
Unsere geplante Tour strotzt nicht gerade vor Höhenmetern oder Distanz und vermutlich würde jeder erwarten, dass wir nicht erst mitten in der Nacht wieder zurück sind. Der Aufstieg ist mit 500 Höhenmeter in anderthalb bis zwei Stunden zu schaffen und der Rückweg nochmals schneller. „Normale“ Menschen würden zu dieser Wanderung am Morgen, spätestens aber am frühen Nachmittag aufbrechen und definitiv vor Einbruch der Dämmerung wieder an der Passhöhe stehen. Bei uns läuft das aber meist etwas anders ab und das hat verschiedene Gründe.
Zum einen wollen wir natürlich das beste Licht zum Fotografieren nutzen, wenn wir am Berg unterwegs sind. Sprich, wir haben es oftmals auf die goldene und blaue Stunde abgesehen. Das weiche Licht und die langen Schatten während dieser Zeit tragen massgeblich zu gelungenen Fotos bei.
Ein anderer und für viele vielleicht erst einmal nicht so offensichtlicher Grund ist die Frequentierung gewisser Orte. Unser Motto lautet meist: Massen meiden. Ungern stehen wir mit zehn oder auch hundert anderen Menschen an einem Platz und drängen uns um die beste Aussicht. Je später der Abend (oder umgekehrt auch je früher der Morgen), desto weniger Menschen sind grundsätzlich irgendwo in den Bergen anzutreffen. Deshalb versuchen wir sehr oft an Randzeiten unterwegs zu sein, auch wenn das bedeutet, früh aufzustehen oder wie heute erst spät zurückzukommen.
Abend(b)rot über dem Grimselpass
Unser Ziel erreichen wir heute pünktlich zum Abendessen. Um 19 Uhr stehen wir ganz alleine an dem kleinen Bergsee und uns knurren mittlerweile gehörig die Mägen. Anstatt zu Brot und Käse zu greifen, kommt jedoch erst einmal die Kamera zum Einsatz. Aus unserer Perspektive geht die Sonne gerade hinter dem nächsten Berg unter und die letzten Strahlen wollen wir natürlich für ein paar Fotos nutzen, Sonnensterne inklusive.
Irgendwann wird der Hunger aber doch zu gross und wir packen endlich unser Abendessen aus. Frisches Brot und guter Käse warten auf uns. Wirklich gemütlich ist es hier allerdings nicht, um eine gute Brotzeit zu geniessen. Der eiskalte Wind bläst uns um die Nase und so verbringen wir die nächsten Stunden abwechselnd mit Essen und Fotografieren, damit uns nicht allzu kalt wird.
Während Falko eine Panoramaaufnahme vorbereitet, schleiche ich mit meiner Kamera am See entlang und wie sollte es anders sein, bleibe ich natürlich an einem Büschel mit Blumen hängen. Daran kann ich einfach nicht vorbeigehen und mit der spiegelnden Wasseroberfläche im Hintergrund bin ich mit dem Ergebnis mehr als zufrieden.
Lautstark und halbstark auf alpinen Strassen
Weniger zufrieden sind wir beide jedoch mit der Geräuschkulisse, die selbst hier oben noch (auf negative Weise) sehr beeindruckend ist. Trotz der fortgeschrittenen Tageszeit ist auf der Strecke zum Furkapass hinauf noch Hochbetrieb. Autos und Motorräder protzen mit wenig IQ und viel PS – es ist schlicht peinlich, nervig und lächerlich.
Die Alpen, ein sensibler und eigentlich schützenswerter Lebensraum, sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr zum Spielplatz der Gesellschaft geworden. Zumindest an den leicht erreichbaren Stellen wie Passhöhen oder Bergstationen. Die Auswirkungen dieser Spassgesellschaft beschränken sich allerdings nicht nur auf die Strassen oder Bergrestaurants, sondern ziehen weite Kreise. Der Lärm ist kilometerweit für Tausende unbeteiligte Menschen und vor allem auch Tiere hörbar und wo viele Menschen sind, fällt zusätzlich meist auch noch viel Müll an. Wie soll das nur weiter gehen?
Die Auswirkungen der Spassgesellschaft beschränken sich allerdings nicht nur auf die Strassen oder Bergrestaurants.
Es macht uns nachdenklich und wütend, dass unsere Natur, die Berge und Gletscher als etwas Selbstverständliches gesehen werden, obwohl sie mehr als vergänglich sind. Diesen Sommer bekommen wir das wieder schmerzlich zu spüren.
Wir versuchen dennoch diese einmalige Landschaft zu geniessen und je weiter die Sonne unter dem Horizont verschwindet und das Licht dämmriger wird, desto mehr kehrt die lang ersehnte Stille ein.
Ein Himmel — Alle Farben
Damit wir noch mit dem letzten Dämmerlicht zurück an der Passhöhe sind, entscheiden wir uns bald für den Abstieg. Mir ist mittlerweile unglaublich kalt vom eisigen Wind und ich bin froh, dass wir uns endlich längere Zeit bewegen. Aber meine Freude hält nicht lange. Kaum sind wir einige Höhenmeter abgestiegen, blitzt die Sonne noch einmal um den benachbarten Grat und malt endlos lange Schatten auf die Felsen vor uns. Schreck- und Finsteraarhorn, Matterhorn und all die anderen Gipfel, auf die wir von hier oben blicken können, leuchten im schönsten Abendlicht und wir können kaum fassen, dass wir diese Aussicht ganz für uns alleine erleben dürfen.
Aber natürlich tragen diese Anblicke ganz und gar nicht dazu bei, dass wir zügig vorankommen. Eigentlich kommen wir so gut wir gar nicht vom Fleck. Denn kaum haben wir ein Motiv festgehalten, taucht schon das nächste auf. Ein paar Wolkenfetzen über dem Grimselsee oder in der letzten Sonne leuchtende Granitplatten am Wegrand.
Es wird immer später und immer dunkler, aber das Highlight kommt natürlich immer zum Schluss. Bevor das letzte Licht des Tages völlig erlischt, leuchtet der gesamte Himmel über dem Berner Oberland in allen Farben von hellem Gelb über intensives Orange bis hin zu Rot und Violett, bevor sich alles in einem immer dunkler werdenden Blau verliert. Ein unglaublicher Anblick, den dieser Abend für uns bereit hält.
Wenn Licht und Motivation schwinden
Und dann – ist es vorbei. Als hätte jemand den Stecker gezogen, sind all die Farben plötzlich verblasst. Das Licht schwindet in wenigen Minuten und genau so schnell überkommt uns ein fieser Hunger und eine bleierne Müdigkeit. Der Wind, in dem wir die letzten Stunden gestanden, fotografiert und gestaunt haben, hat an unseren Kräften gezehrt. Wir sind durchgefroren und die letzten Höhenmeter nehmen wir eher wenig motiviert unter die Füsse. Aber wie heisst Falkos Lieblingsspruch? Genau: „Es ist nicht mehr weit“ (es ist übrigens egal, wie weit es noch ist. ;-)). Diesmal hat er aber tatsächlich recht und schon kurz darauf betreten wir den Stellplatz, wo unser Van auf uns wartet.
Erschöpft sind die Rucksäcke schnell verstaut und bevor wir uns in die Federn werfen, gibt’s im warmen Auto noch mal richtig Brotzeit — ohne Wind und mit äusserst guter Laune.