Und noch ein letztes Mal müssen wir auf Fussspitzen über eine mehrere Meter lange Passage aus Kuhfladen balancieren, dann ist es geschafft und wir können trockenen Fusses den Rest des Abstieges von der Tour d'Aï in Angriff nehmen. Bereits im Aufstieg mussten wir hier entlang, mittlerweile ist die Kuhscheisse aber zumindest getrocknet, was die Sache etwas angenehmer macht.
Vor ungefähr drei Stunden haben wir unsere Wanderung auf die Tour d'Aï in Leysin, diesem einmaligen Bergdorf hoch oberhalb des Rhonetals auf 1'252 m Höhe gelegen, gestartet. Sind zu dritt zuerst durch steile Gassen mit internationalen Schulen und Colleges gelaufen, haben eine grosse Vielfalt an Sprachen aller Couleur auf den Strassen gehört und sind dann abgebogen, um in Richtung Tour d'Aï aufzusteigen. Gute 1000 Höhenmeter stehen uns ab Leysin bevor, die letzten 400 davon exponiert über den südseitigen Normalweg. Der weiss-blau-weiss markierte Bergweg führt hinauf auf den markanten 2'331 m hohen Gipfel.
Tour d'Aï, ein komischer Name und ein kleines Kunststück, dieses "ï" mit seinem Doppelpunkt auf der Tastatur zu finden. Aber auch in Natura ist dieser Berg kein Berg wie jeder andere. Eindrucksvoll bricht seine senkrechte bis überhängende, von einem Klettersteig durchzogene Westwand ab, hinein in den Kessel, in dem der Lac d'Aï Wasser speichert für die winterliche Beschneiung des Skigebiets von Leysin. Eindrucksvoll ist auch die Aussicht vom Gipfel, errreichbar über einen langgezogenen Rücken von Süden her, der heute im Juli einem alpinen Blumenmeer gleicht. Aber noch sind wir nicht dort, sondern müssen zuerst einige Höhenmeter über eine asphaltierte Alpstrasse hinauf wandern, bis wir die gemütliche Alp Le Temeley auf 1'705 m erreichen. Wer sich für typische Walliser Gerichte begeistert, wird hier fündig – für uns ist es aber noch zu früh am Tag und wir lassen Alp, Alpstrasse und lästiges Alpstrassengelatsche rasch hinter uns, als wir durch ein buntes Meer an Bergblumen nordwärts direkt über einen steilen Bergweg in Richtung Lac d'Aï aufzusteigen beginnen.
Es ist unglaublich, was auf dieser Höhe alles wächst und gedeiht. Als diplomierter Voll-Laie in Bezug auf die alpine Flora bleibt mir nicht viel anderes übrig, als die Blumen nach ihren Farben zu klassifizieren – aber dennoch: auch ohne fundiertes Wissen, welches ich Marina als studierte Umwelt-Ingenieurin überlassen muss, ist der Anblick wunderschön und verdeckt die Tatsache, dass wir hier auf dem Pistengelände des Skigebietes herumlaufen.
1'910 m, die Tête d'Aï ist erreicht und eine Trinkpause später führt unser weiterer Weg nun ohne viel Umschweife hinauf in eine steile, felsige Rinne, die vom langgezogenen grasigen Rücken der Tour d'Aï begrenzt wird. Im Zickzack windet sich der Weg herauf, bald gefolgt von der Schlüsselstelle des Normalwegs auf die Tour d'Aï, einer kurzen Passage mit zwei felsigen Absätzen mit Metallklampen und Trittstufen. Die eine etwas länger, die andere nur ein paar wenige Meter hoch. Die Hände müssen aus den Hosentaschen, das Herz muss aber nicht in die Hose rutschen, denn schon nach wenigen Sekunden liegt dieser Abschnitt hinter und ein weiteres buntes Blumenmeer vor uns.
Gelb, Blau, Violett und Pink, darunter eine grüne Matte: so präsentiert sich der nun folgende Weg hinauf auf den felsigen Gipfelaufbau der Tour d'Aï. Zigtausende Blumen reihen sich aneinander, nicht ganz so viele Serpentinen sind es, die uns rasch zu einer weiteren kurzen, felsigen Passage bringen. Auch hier heisst es wieder kurz anpacken, bevor sich der Weg klammheimlich auf die Ostseite windet. Einige Grattürmchen umgehend erklimmen wir dann von der nördlichen Seite die letzten Meter bis hinauf ins Panorama-Eldorado der Tour d'Aï.
Wem diese Aussicht vom Gipfel der Tour d'Aï nicht ausreicht, dem ist wohl nicht zu helfen. Genfersee, Alpenvorland und in die anderen Richtungen Berge, Berge und nochmals Berge. Niedrige Berge und hohe Berge, sogar der höchste Berg der Alpen, der Mont Blanc, lässt sich nicht lumpen und schickt Grüsse von seiner weissen Gipfelhaube aus ewigem Eis. Auch sein nur wenig niedrigerer Nachbar, der Grand Combin, zeigt sich unverkennbar am Talende des Val de Bagnes. Und dazwischen die Granitzacken der unzähligen Bergriesen rund um Chamonix, im Länderdreick der Schweiz, Italiens und Frankreichs. Direkt vor uns glitzert die silbrige Kuppel der Berneuse, ebenfalls per Seilbahn erreichbar und empfehlenswerter Fotostandpunkt in der Abendsonne.
Essen, trinken, schauen, gerne auch in anderer Reihenfolge – viel mehr müssen wir hier am Gipfel gar nicht tun. Nur Wurzeln schlagen sollten wir nicht, denn hinunter wollen wir auch noch. Und so folgt dem Auf- der Abstieg, erneut unzählige Alpenblumen passierend und rasch Höhenmeter verlierend. An der Tête d'Aï wartet ein Lift, den wir aber ignorieren und stattdessen in einem Linksbogen über die Alp Mayen hinab laufen. Und gar nicht so viel später erneut an der Kuhfladenpassage stehen – dieses Mal aber etwas trockeneren Fusses darüber hinweg kommen und wenig später auf der asphaltierten Strasse zurück nach Leysin ankommen, auf der man uns alsbald, ohne weitere alpwirtschaftliche Nebenprodukte passieren zu müssen, zurück nach Leysin trotten sieht.
Wir haben einen markanten Gipfel gesucht und gefunden – vor allem aber haben wir eine einmalige alpine Flora entdecken dürfen, die die Bezeichnung "kunterbunt" mehr als verdient hat. Unerwartet ist sie aufgetaucht, aber meistens sind es ja genau diese unerwarteten Dinge, an die wir uns erinnern und die aus einer einfachen Bergtour ein bleibendes Erlebnis machen.