Trailrunning im Val Roseg
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StoriesAugust 2024

Eisige Gletscher, verstörende Bergstürze und ein knapp 25 Kilometer langer Trailrun mit wenig Aufstieg, dafür umso mehr Abstieg: von der Bergstation Murtèl geht's zur 2'611 m hohen Chamanna Coaz und dann das gesamte Val Roseg zurück bis zum Ziel in Pontresina.

Es ist ein etwas verzweifelter Blick, den mir Marina zuwirft, nachdem ich ihr die restliche Distanz bis nach Pontresina mitgeteilt habe. Und es ist immer doof, wenn diese Zahl grösser als das ist, was man erwartet hat, die Beine langsam schlapp machen und der Wille auch nicht mehr das ist, was er mal war. Rund 20 Kilometer sind wir bereits unterwegs, ungefähr fünf liegen noch vor uns, bis unser Trailrun durch das Val Roseg inklusive Hüttenbesuch auf der Chamanna Coaz in Pontresina seinen Abschluss finden wird.

Tun weh: kurze, knackige Gegenanstiege

Geld raus, Höhenmeter rein

Die Beine seien noch etwas müde, teilt mir Marina am Morgen mit. Müde sind sie von der Besteigung des 3'380 m hohen Piz Julier, einem felsigen Gipfel oberhalb des Julierpasses mit eindrücklichen Aussichten über das Engadin. Gestern Wandern, heute also Trailrunning – wir wollen ja keine Langeweile aufkommen lassen.

Die angedachte Route überzeugt uns mit einer sehr humanen Anzahl an Höhenmetern (360 werden es am Ende des Laufes sein), einem langen Abstieg und einem langen, relativ flachen Teil auf einem Höhenweg auf der nördlichen Talseite. Das Val Roseg ist zu Fuss immer ein bisschen langwierig, auch mit Ski ist es kaum besser, weil es so flach ist und nur mit dem Bike macht es eigentlich wirklich Spass. Aber wir werden ja rennen, dann dauert das nicht so lange...

Ein bisschen Skepsis bezüglich unserer Beine ist noch da, aber wir gehen die Tour gemütlich an und starten mit einer Fahrt vom Camping Morteratsch nach Silvaplana zur Talstation der Corvatsch-Seilbahn. Die Bahn muss man nicht unbedingt nehmen, um zur 2'753 m hohen Fuorcla Surlej zu gelangen. Heute aber kommt uns diese Option ganz gelegen. 900 Meter weiter oben und 60 CHF ärmer spuckt uns die Gondel an der überschaubar schönen Bergstation Murtèl aus und wir finden uns in einer offensichtlich auf den Winter wartenden Landschaft wieder. Aber schon kurz nach unserem Start verlassen wir die breit ausgeschobenen Rampen, Baustellen und trostlosen Schutthalden und rennen in entspanntem Aufwärmtempo mit nur wenig Höhengewinn in Richtung Fuorcla Surlej. Ein paar flache Kehren warten auf uns, bevor sich der Blick ins Val Roseg eröffnet und wir auf die Nordostflanken von Piz Morteratsch, Piz Bernina, Piz Scerscen und Piz Roseg blicken können.

Hochalpen mit Gruss aus der Sahara

Ein Fluss aus Geröll

Unweigerlich fällt unser Blick auf den überdimensioniert wirkenden Ablagerungsbereich des riesigen Bergsturzes am Piz Scerscen vom Frühling 2024. Die enorme Ausdehnung ist kaum vorstellbar, wenn man sie nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Geschätzte acht bis neun Million Kubikmeter Geröll haben sich am 14. April 2024 von der Nordostflanke des fast 4'000 Meter hohen Piz Scerscen gelöst, über fünf Kilometer ist der aufgestaute Schuttkegel lang. Wie durch ein Wunder entstanden weder Sach- noch Personenschaden – und das inmitten in einer der besten Skihochtouren-Saisons der vergangenen Jahre.

Kopfschüttelnd machen wir uns nach einer kurzen Trinkpause wieder auf den Weg. Von der Fuorcla Surlej führt uns unser weiterer Run leicht abfallend an der Ostflanke des Val Roseg entlang. Ein flowiger Trail erwartet uns, perfekt zum Laufen, mit perfekter Aussicht, perfektem Wetter und mit nicht ganz so perfekten Beinen. Fies sind die kurzen, steilen Anstiege bei der ein oder anderen Bachquerung – warum genau ist die Brücke jeweils rund 20 - 30 Höhenmeter weiter oben und nicht hier bei uns? Wir wissen es nicht, aber kurz tut es weh.

Nach der Überquerung der Holzbrücke wartet der Hauptanstieg des heutigen Laufes auf uns. Wobei Hauptanstieg ein grosses Wort für eine relativ kleine Menge an Höhenmetern ist. Nur ungefähr 100 Meter, verteilt auf eine Handvoll Kilometer, müssen wir überwinden, um ungefähr auf 2'670 Metern den höchsten Punkt des Hüttenweges zur Chamanna Coaz zu passieren. Die geniale Aussicht entschädigt für die Anstrengung, denn mittlerweile ist auch der Talabschluss des Val Roseg in unser Gesichtsfeld gerückt und mit ihm Il Chapütschin, Piz Glüschaint, La Sella, Dschimels und der Piz Sella direkt neben der gleichnamigen Fuorcla da la Sella. Dreckig sehen sie aus, Mitte August hat sich die Schneegrenze bereits sehr weit nach oben verschoben und der darunter liegende Saharastaub kommt unschön wieder zum Vorschein.

Unerwartete Flora

Besuch auf der Coazhütte – it's Tea Time

Die Umgebung wird rauer, die Vegetation hingegen bunter: wir nähern uns der gemütlichen Chamanna Coaz, die sich auf 2'611 m unter dem zerklüftetem Vadret da Roseg auf eine Felsplattform schmiegt. Rund 200 Meter vor der Hütte durchqueren wir nochmal einen Gürtel voller violetter alpiner Blütenpracht – ein Anblick, den man hier gar nicht erwarten würde.

Traditionsgemäss schütten wir uns auf der Aussichtsterrasse der Hütte einen Liter gut gesüssten Tee rein – es gibt kaum etwas erfrischenderes während eines Trailruns und gut verträglich ist diese Art der Flüssigkeitszufuhr auch. Das Angebot des Hüttenkuchens lehnen wir lieber ab, auch wenn er zweifelsohne sehr lecker schmecken würde. Aber noch liegen 13 Kilometer vor uns und die wollen wir mit leichtem Magen in Angriff nehmen.

Die Coazhütte wurde erst vor wenigen Jahren renoviert und zeigt sich nun von einer ausgesprochen einladenden Seite. Erhalten geblieben ist die aus der Vogelperspektive betrachtete nahezu kreisrunde Form und die damit verbundene eigenwillige Geometrie der Schlafräume, ansonsten glänzt jedoch fast alles wie neu.

Nicht ganz so neu fühlen sich unsere Beine an, trotz der willkommenen Pause auf der Hüttenterrasse. Wir starten wieder in Richtung der etwas demotivierenden Talauswärts-Perspektive ins Val Roseg. Sehr weit entfernt können wir die Lage von Pontresina erahnen, unserem Ziel für diesen Lauf. Aber zuerst einmal müssen wir den Rückweg bis zu einer Weggabelung bei P. 2521 hinter uns bringen.

Flowtrails im Val Roseg

Der Kräutertee zeigt doch noch Wirkung und wir können den flowigen Trail in vollen Zügen geniessen. Langsam gleitet die Landschaft an uns vorbei: Lej da Vadret, Piz Morteratsch und Piz Tschierva kommen ins Blickfeld, die Chamanna da Tschierva, Ausgangspunkt für den berühmten Biancograt und alles beherrschend der riesige Schuttkegel unterhalb des Vadret da Tschierva. Wieder ein fieser Gegenanstieg zu einer kleinen Brücke, dann haben wir die Abzweigung erreicht, die wir bereits auf dem Hinweg von der Fuorcla Surlej herab kommend passiert haben.

Noch stehen uns 500 Höhenmeter talabwärts bevor, die sich leider nicht mehr ganz so entspannt dahingleiten lassen wie das bisherige Wegstück. Der Abstieg an der verlassenen Alp Margun da l'Alp Ota vorbei ist teilweise etwas zugewachsen und der Weg mühsam verblockt. Wir nehmen ein bisschen Tempo raus, um in diesem Gelände nicht umzuknicken, weil wir den Weg nicht gut erkennen können.

Aber auch diese kurze Dschungelpassage nimmt ein Ende und das näher kommende Bimmeln der Kuhglocken zeigt uns unmissverständlich an, dass wir uns dem Talboden nähern. Ab hier sind die technischen Schwierigkeiten vorbei und ein breiter Alpweg, der später ab dem Hotel Roseg in eine von Pferdekutschen befahrene Naturstrasse übergeht, wird uns auf den letzten Kilometern talauswärts begleiten.

An die skeptischen Blicke von den Kutschen herab gewöhnt man sich, an die ekelhafte Hitze hier unten eher nicht. Wir sind beide keine grossen Hitzeläufer und sehnen uns nach den kühleren Temperaturen an der Coazhütte zurück. Aber das hilft jetzt nichts. Wenn wir uns nicht in die Kutsche setzen wollen (und das ist irgendwie keine Option...) müssen wir da noch durch. Aber auch die letzte Handvoll Kilometer neigt sich irgendwann dem Ende zu und am Bahnhof Pontresina drücken wir beide auf die Stopptasten unserer Uhren und beenden einen weiteren wunderbaren Lauf durch das gesamte Val Roseg, aus hochalpiner Umgebung bis hinunter in die Lärchenwälder rund um Pontresina.

Und wie das immer so ist, steht uns kurz darauf noch ein unangenehmer Schlusssprint bevor, denn die Abfahrtszeit des Busses zurück zu unserem Van auf dem Camping Morteratsch korreliert leider mal so gar nicht mit unserer Ankunftszeit in Pontresina. Wenn wir also nicht eine längere Zeit dümmlich an einer Bushaltestelle herumstehend warten wollen (wollen wir nicht), müssen wir mit einem finalen Bergaufsprint die Haltestelle erreichen, was uns glücklicherweise auch gelingt. Was so eine Aussicht auf eine entspannende Dusche alles bewirken kann...

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Über Falko Burghausen

Falko Burghausen
Falko erhebt die Fotografie zu einer Kunstform, die jenseits einfacher Abbildungen liegt. Seine künstlerische Vision erlaubt es ihm, die Seele der eindrucksvollsten Momente einzufangen und in zeitlose Bilder zu verwandeln. Mit einem Auge für Details und einem Gespür für die Schönheit der Welt, schafft er Bilder, die Emotionen wecken und die Betrachter in ihren Bann ziehen. Als Swiss Athletics-zertifizierter Trailrunning-Guide steht er immer vor der Qual der Wahl, denn die Kamera-Ausrüstung wiegt dann doch zu viel, um sie auf seinen Läufen in der Bergwelt mitnehmen zu können...
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