Kipppunkte. Es gibt in unserer Welt unterschiedliche Kipppunkte, den meisten von uns ist der Begriff sicherlich im Zusammenhang mit der globalen Erwärmung ein mit wenig erbaulichen Zukunftsszenarien assoziierter Begriff. Es gibt aber auch einen Kipppunkt beim Laufen, inbesondere bei steilen Bergläufen (zumindest bezeichne ich diesen wackligen Moment immer so): lohnt es sich noch, joggende Bewegungen durchzuführen oder verpufft die ganze Energie nur im sinnlosen und ineffizienten Versuch, ein Bild eines Läufers darzustellen, während man mit schnellem Gehen mindestens genauso schnell wäre und gleichzeitig noch weniger Energie verbrauchen würde?
Die Beine sagen „Lass es!“, der Wille sagt „Zieh es durch!“, nur der Läufer sagt gar nichts mehr, denn mir fehlt gerade schlicht die Luft für tiefsinnige Selbstgespräche. Ich bin im Rhonetal unterwegs, genauer gesagt auf dem Weg hinauf zur kleinen Alphütte Prabé, die malerisch oberhalb von Sion lieg. Der Anstieg dort hinauf ist ein ziemliches Biest und könnte ein guter Kandidat für einen sogenannten Vertical Kilometer sein: eine möglichst konstant steile Strecke, die noch laufbar ist und 1000 Höhenmeter in kürzest möglicher Distanz überwindet. Der markierte Wanderweg macht sofort ernst und lässt kraftsparende Serpentinen einfach weg. Einzelne hohe Stufen über Wurzeln oder Steine lassen einen Gedanken an entspanntes Einlaufen und Warmwerden gar nicht erst aufkommen, sondern es geht direkt zur Sache.
Der 2042 m hohe Prabé ist in dem Sinne kein richtiger, eigenständiger Berg, sondern eher eine sanfte Kuppe im langen Grat, der hinauf zum 2730 m hohen Sé Noir führt. Obwohl man diese nordseitig des Rhonetals gelegenen Berge intuitiv zum Wallis zählen würde, gehören die Berge bereits zu den Berner Alpen. Sie ragen oberhalb der Walliser Gemeinde Savièse auf, nur wenige Kilometer vom mondänen Skiort Crans Montana entfernt. Die Verlängerung des Grates über Sé Noir gipfelt im wahrsten Sinne des Wortes im 3250 m hohen Wildhorn, dem vergletscherten und höchsten Berg in dieser Region.
Die Walliser Hauptstadt Sion liegt rund 1500 m tiefer und dominiert diesen Bereich des Rhonetals mit ihren Burgen und Kirchen, der Autobahn und den Bahngleisen sowie den umliegenden Skigebieten wie Thyon. Gegenüber des Prabé führt das Val d’Hérens südseitig in das Herz der Walliser Berge hinein und wird am Ende markant überragt von der unübersehbaren Dent Blanche und weiteren hohen Dreitausendern rund um das Bergdorf Arolla.
Die Handschuhe sind in der Zwischenzeit schon in meinem kleinen Laufrucksack verstaut, die Jacke etwas geöffnet und das Terrain narrt mich mit vermeintlich flacheren Abschnitten, die gleich da oben anfangen. Erreiche ich dann die besagte Stelle, entpuppt sie sich nur als kurzes Innehalten von wenigen Metern, bevor es nochmals steiler wird. Mühsam ist, dass ich die Strecke bereits kenne und weiss, dass sie auch wieder flacher wird. Ich kenne sie aber nicht so gut, dass ich genau weiss, wo das der Fall ist. Also bleibt nur durchbeissen und Höhenmeter um Höhenmeter auf dem kleinen, teilweise schmalen und ausgesetzten Bergweg hinter mich bringen.
Der Wanderweg hinauf zum Prabé ist recht beliebt, bietet er doch immer wieder wunderschöne Ausblicke in die Weite des Rhonetals und der Walliser 4000er auf der gegenüberliegenden Talseite. Es mutet wie das Miniatur Wunderland in echt an und lädt geradezu dazu ein, die Details zu entdecken und ein wenig über die Namen all dieser Berge zu rätseln, die sich in ihrer ganzen Pracht vor dem Auge des Betrachters aufreihen. Graue Strassenbänder durchqueren Wälder, traversieren Berghänge und verbinden Ortschaften miteinander. Die Rhone fliesst ungerührt von all diesem Gewusel im Tal in Richtung Genfersee und zieht die Autobahn und Bahnlinie in Richtung Montreux neben sich her.
Von rechts mündet der Fahrweg in den Wanderweg, der von Mayens de la Zour herauf führt. Ab hier beginnt der landschaftlich interessanteste Teil des Anstiegs, der mich nach einigen weiteren steilen Höhenmetern an einer ausgesetzten Felsflanke entlang aus dem Wald heraus führt. Steile Platten führen in die Tiefe, der Weg ist nur ein schmaler in den Fels gehauener Pfad, Fehltreten sollte hier niemand. Der Weg ist zwar „nur“ rot-weiss markiert, Schwindelfreiheit und Trittsicherheit sollten aber bei jedem Wanderer oder Läufer vorhanden sein, um die Tour nicht zur Tortur werden zu lassen.
Einzelne Lärchen, die aber im Moment all ihre Nadeln abgeworfen haben, säumen den Weg, der sich im Zickzack weiter in die Höhe schraubt. Im Herbst ist speziell dieser Teil des Weges mit den leuchtenden Lärchen ein wunderschöner Abschnitt, jetzt im Frühjahr dominiert allerdings ein eher tristes Grau die Vegetation.
Ich werde begrüsst, aber nicht von anderen Läufern oder Wanderern, sondern von einigen Gämsen, die mein Gekeuche skeptisch (oder spöttisch?) beäugen. Wo wir Menschen uns sonst etwas darauf einbilden, wo wir im alpinen Gelände wie schnell und vermeintlich elegant hinkommen können, ist die Gämse schon da gewesen und fragt nur „War was?“. Von der Geschwindigkeit ganz zu schweigen, mit der nahezu senkrechte Felsplatten und schroffes, ausgesetztes Gelände gemeistert werden.
Ausgesetzt wird es nun auch für mich. Erst führt der Weg über einen kurzen, exponierten und verwurzelten Grat, dann westseitig und etwas schattig um ein paar letzte Schneeflecken herum auf eine sanfte Kuppe, die von einer derzeit gelben Graslandschaft bedeckt ist. Flach, sonnig, teilweise ein lichter Baumbestand: ideales Laufgelände und eine Belohnung nach den steilen Abschnitten im unteren Teil dieses Berglaufs. Nach der kleinen Cabane de Prabé ist es nur noch ein kurzes Stück zu meinem heutigen Zielpunkt, einer kleinen Kuppe direkt unterhalb des Prabé. Hier liegt allerdings noch Schnee und mit den Laufschuhen macht es wenig Sinn, dort hindurch zu waten.
Sonne tanken, Luft holen und Aussicht geniessen. Das, was hier oben so ziemlich jeder macht. Idyllische Plätze und vereinzelte Sitzgelegenheiten gibt es genug und wer möchte, kann sogar in der unbewarteten Cabane de Prabé übernachten (im Sommer kann es allerdings sein, dass es kein Wasser gibt). Als Berglauf und Wanderung ist der Prabé ein wunderschönes Ziel, je nach Startpunkt muss man mindestens 800 Höhenmeter einplanen. Idealer Start sind die Parkplätze am Ausgangspunkt zur Ancien Bisse de Savièse. Der Zeitbedarf variiert natürlich stark je nach Lauf- oder Gehtempo, für Läufer sind eine bis eineinhalb Stunden für den Aufstieg sicherlich machbar.
Der Rückweg gestaltet sich von der Routenfindung her einfach, denn es geht den selben Weg wieder zurück. Passagenweise sollte man aufpassen, auch und vor allem als Läufer, denn manche Passagen können durchaus schlammig sein und einige ausgesetzte Stellen lassen keinen Spielraum für übermotivierte Fehltritte. Die Gämsen zeigen mir nochmals, wie sich wirkliche Profis im weglosen Gelände mit atemberaubender Geschwindigkeit bewegen. Mir bleibt nur das menschliche Herumeiern auf einem markierten Wanderweg und die Erkenntnis, dass auch das beste Training und die teuerste Ausrüstung niemanden zu solchen Leistungen befähigen kann wie diese Tiere, die hier ihren Lebensraum haben.
Der Trailrun hinauf auf den Prabé gehört in der Region Sion sicherlich nicht zu den Geheimtipps, ist aber dennoch jederzeit einen Besuch wert. Wer steile, alpine Läufe mag, wird hier voll auf seine Kosten kommen, beeindruckende Tiefblicke und eine atemberaubende Aussicht auf die Walliser 4000er inklusive. Die individuelle Route lässt sich beliebig erweitern oder verlängern – der Fantasie sind im dichten Wegenetz der nördlichen Rhonetal-Seite kaum Grenzen gesetzt.